Fliegen, tauchen, skaten, paddeln

Rollstuhl-Branche testet Grenzen

Out-Door- Rollstuhl mit elektrischen Allrad-Antrieb
"ZOOM" Foto: Mohssen Assanimoghaddam (dpa)

Im Offroad-Rollstuhl über Stock und Stein: Raffinierte Technik eröffnet Behinderten Möglichkeiten, die auch bei Nicht-Behinderten Begeisterung auslösen. Nichts scheint mehr unmöglich bei der Mobilität.

Die Rollstuhl-Branche testet ihre Grenzen aus.Was früher nur als Hilfsmittel für die Mobilität galt, eröffnet dank moderner Technik viele neue Möglichkeiten. Detlef Tänzer setzt seit September im niedersächsischen Naturpark Dümmer auf mietbare, geländegängige Elektro-Rollstühle. Mit dem Offroad-Rollstuhl geht es über Stock und Stein durchs Gelände in dem nördlich von Osnabrück gelegenen Park rund um den zweitgrößten Binnensee Niedersachsens.

Am Heidesee in Holdorf ist seit 2017 sogar ein Amphibien-Rollstuhl mit Ballon-Reifen und Schwimmhilfen in den Armlehnen im Einsatz. «Damit können auch Behinderte im Wasser schwimmen», sagt Naturpark-Geschäftsführer Tänzer.

Ob geländegängig durch Schlamm und Unterholz oder als Rollstuhl-Skater in der Halfpipe: Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Am Dümmer-See üben die mietbaren Offroad-Rollis einen derartigen Reiz aus, dass auch schon Menschen ohne Behinderungen sie ausprobieren wollten. Pro Stück rund 21.000 Euro teuer haben die geländegängigen E-Rollis eine Reichweite von 25 Kilometern.

«Der Rollstuhl wird heute nicht mehr versteckt - man zeigt ihn, das ist ein Trend», sagt Produktmanager Boris Zellner vom Prothesenhersteller Otto Bock, der seit den 90er-Jahren auch im Rollstuhl-Geschäft tätig ist. Die Entwicklung befeuern immer leichtere Materialien und smartere Technologien.

Die auf den Rollstuhl angewiesene britische Performance-Künstlerin Sue Austin beweist, dass ein Handicap noch lange nicht bedeutet, Grenzen zu haben. Ob mit einem speziell entwickelten Unterwasser- oder einem Gleitschirm-Rollstuhl: zu Wasser, zu Lande und in der Luft ist sie unterwegs. Mit ihren öffentlich inszenierten Auftritten wehrt sie sich gegen die Wahrnehmung einer Umwelt, die sie als Rollstuhl-Fahrerin häufig als nicht gleichwertig ansieht.

«Wir hatten gerade eine Anfrage, ob man mit Rollstühlen auch surfen kann», sagt Alexander Groth vom deutschen Rollstuhl-Sportverband DRS in Hamburg. Dort fand im August eine WCMX-Meisterschaft statt - das Kürzel steht für eine Art Rollstuhl-Skating. Groth, der ein zunehmendes Interesse junger Rollstuhlfahrer beobachtet, glaubt: «Die unterschiedlichsten Anbieter versuchen gerade, den Markt zu öffnen.»

Selbst das sogenannte Stand Up Paddling (SUP) öffnet sich den Rollstuhlfahrern - etwa auf der Ilmenau in Lüneburg. Die Boards sind mit zwei Metern Breite und fünf Metern Länge größer als die üblichen Bretter für Stehpaddler, Idee und Entwicklung kommen von der Lüneburger Firma Nature-Guides. Die Boards fertige eine französische Firma in China.

An Schlaufen und Ösen können Sicherungsgurte für Rollstuhlfahrer befestigt werden. Bei einer Vorführung sind auf einem gelben Board zwei Rolli-Fahrerinnen und zwei Männer mit geistiger Behinderung mit zwei Betreuern unterwegs, alle tragen Rettungswesten. Auf einem roten Board begleiten sie fünf weitere Betreuer.

Es sei das weltweit erste Projekt dieser Art, sagt Ela Gilleßen vom SUP & Outdoor Verein Lüneburg. «Aktion Mensch, DLRG und Lebenshilfe unterstützen uns dabei.» Auch auf der Alster in Hamburg hätten sie es schon probiert. «Jeder kann seinen eigenen Rollstuhl mitbringen, da braucht es keine Spezialanfertigung», betont Gilleßen.

Rollstuhlfahrerin Margret Homola (41) ist dabei und meint: «Ich bin froh, dass ich so eine Chance habe, Neues kennenzulernen.» Anna Weber kam mit ihrem Rolli aus Hamburg. «Ich habe in Hamburg immer am Goldbekkanal gesessen und den Stand-Up-Paddlern zugeschaut. Da habe ich gedacht: Das will ich auch machen», sagt die 63-Jährige. Die Freude über das gelbe Board ist. «Es ist ganz schön anstrengend, aber es ist ganz anders als im Rollstuhl zu fahren», meint sie. «Das ist ein bisschen wie fliegen.»

Pressemitteilung der dpa, Artikel von Ralf E. Krüger und Peer Körner